Jeder Mensch erlebt eine traumatische Situation auf unterschiedliche Art und Weise. Genau so verschieden läuft die Verarbeitung eines Traumas ab. Auch wenn zwei Menschen komplett unterschiedlich auf die traumatische Erfahrung reagieren können, gibt es dennoch einige Gemeinsamkeiten.
Eine dieser Gemeinsamkeiten ist die Dissoziation, welche vor allem bei besonders schweren Fällen von psychischem Stress, sexuellem Missbrauch oder schwerwiegender Vernachlässigung auftritt.
Welche traumatischen Ereignisse lösen eine Dissoziation aus?
Die Dissoziation ist eine Art Schutz- und Abwehrmechanismus des Körpers, um das traumatische Erlebnis verkraften zu können. Dabei kann die Dissoziation nur wenige Stunden, aber auch Tage und Monate andauern.
Es ist unabhängig, welche Art von Trauma die betroffene Person erlebt hat. Jeder Form von Trauma kann eine Dissoziation auslösen. Sowohl einmalige Erlebnisse wie ein schwerer Unfall, aber auch anhaltende verstörende Ereignisse wie Krieg sind potentielle Ursachen für ein Dissoziieren. Die Dissoziation ermöglicht es dem Menschen, sich von der schrecklichen Situation zu distanzieren und den Schrecken auszublenden.
Gemäß einer Studie der American Psychiatric Association („What Are Dissociative Disorders?”, Philip Wang, M.D., Dr.P.H. Aug. 2018) haben rund 90 Prozent der Menschen, die in den USA, Kanada und Europa unter einer dissoziativen Identitätsstörung leiden, in ihrer Kindheit Vernachlässigung oder Missbrauch erfahren.
Wie verursacht ein Trauma eine Dissoziation?
Um den Zusammenhang zwischen einem Trauma und der Dissoziation zu verstehen, hilft ein Blick auf die neurobiologischen Abläufe des Körpers. Der menschliche Körper ist bereits seit der Steinzeit mit einem unterbewussten Überlebensmodus ausgestattet. Instinktiv wird zwischen Kampf oder Flucht entschieden.
Noch heute setzt der Körper bestimmte Hormone frei, sobald eine Gefahr droht. Die automatische physiologische Reaktion entscheidet zwischen Stellen der Gefahr, Flucht oder Kampf. Dabei wird die Herzfrequenz erhöht, der Sauerstoffgehalt im Blut nimmt zu und die Atmung wird beschleunigt. All diese Eigenschaften werden automatisch gesteuert, um eine bestmögliche Überlebenschance zu haben.
Kann eine Person jedoch weder kämpfen noch weglaufen, beispielsweise weil sie viel zu jung ist, bleibt als einziger Ausweg das Erstarren. Der eigentliche Denkprozess setzt aus, oft setzt ein Gefühl von Taubheit und des Verlorenseins ein. Dieser instinktive Überlebensmodus während einer traumatischen Situation ist eng mit der Dissoziation verknüpft.
Dissoziationen ermöglichen ein Funktionieren trotz Trauma
Die Dissoziation ist eine Art Überlebensmechanismus, die dafür sorgt, dass man nach einem Trauma weiter funktioniert. Es wird eine sogenannte „Anscheinend Normale Persönlichkeit“ gebildet, die einfach weiterhin funktioniert, jedoch Emotionen abspaltet. Betroffene gehen oft durch den Alltag, ohne sich dabei wirklich zu spüren. Indem wieder ein Zugang zu den Gefühlen geschaffen werden soll, werden nicht nur frühere positive, sondern auch die negativen Gefühle an die Oberfläche gebracht. Daher ist es von großer Bedeutung, eine Dissoziation aufgrund eines Traumas behutsam und mit professioneller Hilfe, beispielsweise in Form von einem gut ausgebildeten Psychotherapeuten, zu behandeln.
Dissoziation als posttraumatische Bewältigungsreaktion
Schwere dissoziative Zustände sowie dissoziative Störungen sind häufig als eine Reaktion auf eine stark traumatisierende Erfahrung zurückzuführen. Dabei handelt es sich um eine pathologische Dissoziation als posttraumatische Bewältigungsreaktionen. Erfahrungen, die die Seele besonders schwer belasten, werden aus dem Bewusstsein ferngehalten.
Dadurch nimmt die betroffene Person nicht bewusst wahr, was im aktuellen Moment geschieht, sondern ist entfremdet. Das dissoziative Verhalten wirkt als Selbstschutzmechanismus. Je größer und stärker die Belastung oder Traumatisierung ist, umso ausgeprägter ist die Reaktion in Form eines dissoziativen Zustands.
Posttraumatische Belastungsstörungen
Eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) steht oft im Wechselspiel mit dem Dissoziieren. Eine posttraumatische Belastungsstörung zeichnet sich dadurch aus, dass unter anderem Flashbacks, Übererregung und Albträume zu den typischen Symptomen gehören. Bei einem dissoziativen Zustand ist die Vermeidung eines der typischsten Symptome.
Wichtig für Betroffene ist es, die Symptome zu erkennen. Nicht jeder, der ein Trauma erlebt hat, leidet zwangsläufig unter dissoziativen Störungen, einer Amnesie oder Identitätsstörungen. Häufig treten weitaus weniger ausgeprägte Traumafolgestörungen wie Schlafprobleme, Konzentrationsschwächen, aber auch Beziehungsprobleme aufgrund nicht vertrauen zu können auf.
Dissoziative Identitätsstörungen
Eine besonders starke posttraumatische Belastungsreaktion kann eine dissoziative Identitätsstörung auslösen. Diese entsteht im frühen Kindesalter, etwa zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr, wenn Kinder eine überwältigende Stresssituation oder Gewalt erleben. In diesem Fall dissoziieren die Kinder, um zu überleben. Bei langanhaltenden Stresserfahrungen beginnen die Dissoziationserfahrungen in die Persönlichkeitsstruktur überzugehen.
Dabei entsteht eine Spaltung der Persönlichkeit als Extremform der Dissoziation. Am Ende bleibt keine integrierte Persönlichkeit mit Erinnerungen und eigenen Erfahrungen mehr übrig. Die Persönlichkeit der betroffenen Kinder wächst nicht zusammen, es existieren mehrere Persönlichkeitsanteile nebeneinander. Das Ergebnis ist eine dissoziative Struktur der Identität.
Verschiedene Ausprägungen der Dissoziation
Eine Dissoziation, welche durch ein Traumata verursacht wurde, kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Es wird zwischen drei Arten unterschieden:
1. Die primäre strukturelle Dissoziation
Bei der primären strukturellen Dissoziation handelt es sich um eine einfache dissoziative Störung. Es geschieht eine Aufspaltung in zwei unterschiedliche Persönlichkeitsaspekte. Beide Persönlichkeitsanteile arbeiten zusammen, wobei der EP als Schutzmechanismus und der ANP als Überlebensfunktion fungiert.
Der emotionale Persönlichkeitsanteil (EP):
Er ist Träger bestimmter Erinnerungen und kann später durch Trigger diese Empfindungen wieder an die Oberfläche bringen. Oft werden Erinnerungsmomente mit Fantasiemomenten gemischt und der Zugang zu realitätsgerechten Erfahrungen bleibt versperrt.
Der anscheinend normale Persönlichkeitsanteil (ANP):
Er verfügt über keine Erinnerungen an die Traumatisierung und sorgt dafür, im Alltag zu überleben. Jedoch darf dieser Anteil nicht als gesund missverstanden werden. Vielmehr handelt es sich um eine Art Überlebensmuster, bei welchem die Betroffenen oft keine wirkliche Lebensfreude oder Spontanität zeigen.
Typische Diagnose für eine primäre strukturelle Dissoziation: PTBS, teilweise akute Belastungsstörung, Depression, Angst- und Zwangsstörung
2. Die sekundäre strukturelle Dissoziation
Die sekundäre strukturelle Dissoziation geschieht bei einer komplexen oder chronischen Traumatisierung. Hier erfolgt eine weitere Aufspaltung der emotionalen Persönlichkeitszustände. Typische Anzeichen sind Schutzmechanismen wie:
Typische Diagnose für eine sekundäre strukturelle Dissoziation: komplexe posttraumatische Belastungsstörung, partielle dissoziative Identitätsstörung, Persönlichkeitsstörung mit Borderline-Muster
3. Die tertiäre Dissoziation
Die tertiäre Dissoziation ist gleichzusetzen mit der dissoziativen Identitätsstörung. Dabei greifen emotionale Persönlichkeitsanteile immer wieder ein und übernehmen die Kontrolle. Auch mehrere ANPs sind vorhanden und für verschiedene Aufgaben zuständig. Dabei kann es sein, dass ein Anteil sich um den normalen Alltag, ein anderer um den Beruf und wieder ein anderer um die sozialen Kontakte kümmert.
Typische Diagnose für eine tertiäre strukturelle Dissoziation: dissoziative Identitätsstörung
Welche Behandlungsform hilft bei dissoziativen Störungen?
Für Menschen, die unter einer dissoziativen Störung leiden, ist eine Psychotherapie die geeignete Art der Behandlung.
Je nach Ausprägung sind auch kombinierte Behandlungen in Form von einer Psychotherapie, einer medikamentösen Behandlung und je nach Bedarf Angebote wie Kunst- oder Bewegungstherapien sinnvoll.
Auch eine Paar- oder Familientherapie kann sinnvoll sein.
Da die meisten dissoziativen Störungen durch Traumatisierungen ausgelöst wurden, liegt das Hauptaugenmerk auf der Bewältigung der traumabezogenen Symptome und ähnelt der Therapie bei einer PTBS. Die Psychotherapie wird dabei in unterschiedliche Phasen unterteilt:
Je nach Schweregrad ist eine ambulante, teilstationäre oder komplett stationäre Therapie möglich.
Die Stabilisierungsphase
In der Stabilsierungsphase geht es darum, den Patienten zu helfen, ihre Symptome zu kontrollieren und eine psychische Stabilität aufzubauen. Als wichtiger erster Schritt sollte dabei ein Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Therapeut gebildet werden. Auch das weitere Vorgehen sowie die Tatsache, dass das Wiedererleben des traumatischen Erlebnisses Teil der Therapie ist, müssen geklärt werden.
Der Patient selbst lernt in dieser Phase unter anderem, seine Gefühle bewusster wahrzunehmen und Dissoziationen rechtzeitig zu erkennen, um sie kontrollieren oder stoppen zu können. Wichtig ist, dass der Betroffene Hilfe bekommt, um den Alltag besser bewältigen zu können.
Die Traumabearbeitung
Die Traumabearbeitung (Expositionsphase) dient dazu, dass sich der Betroffene die bisher nicht bewussten Gedanken und Erinnerungen bewusst macht und sie somit verarbeiten kann. Dabei werden die Erfahrungen schrittweise abgefragt und der Patient erhält die Aufgabe, Schritt für Schritt die mit dem Traumata verbundenen Gefühle, Bilder und Erinnerungen wiederzuerleben. Das erneute Erleben hilft, die verdrängten Informationen zu verarbeiten. Mögliche Verfahren, um die Erinnerungen auf eine möglichst schonende Weise hervorzuholen, sind unter anderem:
Die Integrations- und Neuorientierungsphase
Die abschließende Phase in der Therapie dient dazu, die traumatisierenden Erfahrungen weiter zu verarbeiten und in das übrige Leben zu integrieren. Die Auswirkungen sollen auf eine Ebene zurückgegangen sein, damit die Patienten mit einem guten Gefühl ihren Alltag bewältigen können, ohne Angst vor einer Abspaltung oder anderen Formen der Dissoziation zu haben.